Karl-Sudhoff-Gedächtnissitzung
Emil Wohlwill (1835-1912)
Als unsere Gesellschaft im September 1901 in Hamburg gegründet
wurde, gehörte ihrem ersten, aus fünf Personen bestehenden
Vorstand auch ein Hamburger Wissenschaftshistoriker an: Emil
Wohlwill. Der größte Teil von Wohlwills Arbeiten, soweit
sie unser Fach betreffen, ist einem Physiker - Galilei - gewidmet,
und so liegt es für mich als Hamburger Physikhistoriker
besonders nahe, Ihnen heute den Mann vorzustellen, der in dieser
Stadt als Pionier der Physikgeschichte gewirkt hat, lange bevor es
dort eine Universität oder gar ein Institut für die
Geschichte der Naturwissenschaften gab. Ich stütze mich dabei
hauptsächlich auf die 1972 erschienene Wohlwill- Biographie von
Hans-Werner Schütt.
Wie Julius Leopold Pagel, von
dem im vergangenen Jahr bei dieser
Gelegenheit die Rede war, war auch Emil Wohlwill der Sohn eines
jüdischen Lehrers. Sein Vater Immanuel Wolf, der erst 1822 den
Namen Wohlwill angenommen hat, unterrichtete bis 1838 an der
Israelitischen Schule in Hamburg und wurde dann Direktor der
Jacobsenschule in Seesen - einer der ersten Schulen, an denen
jüdische und christliche Kinder gemeinsam erzogen wurden. Hier
und im benachbarten Blankenburg verbrachte Emil Wohlwill seine
Kindheit. 1851 kehrte er an seinen Geburtsort Hamburg zurück,
wo er die beiden Eliteschulen der Hansestadt durchlief, das
Johanneum und das Akademische Gymnasium.
Wie manch anderer, der sich später
der Wissenschaftsgeschichte
zuwandte, schwankte auch Wohlwill zwischen naturwissenschaftlichen
und literarisch-philologischen Neigungen. Unter dem Einfluß
seines Chemielehrers im Akademischen Gymnasium, des bekannten
Hamburger Pädagogen Karl Wiebel, entschloß er sich
schließlich "mit der Philologie zu brechen, die mich niemals
befriedigen kann. Ich will mich mit allem, was in und an mir ist,
auf die Naturwissenschaften werfen. [ ... ] Was an den
philologischen Studien schön ist, und das ist mancherlei, will
ich mir für die Mußestunden zum Genuß aufbewahren,
dahin gehören sie auch."
Von 1855 bis 1860 studierte Wohlwill Chemie
an den Universitäten Heidelberg, Berlin und Göttingen. Seine
akademischen Lehrer rechnen wir heute zu den großen
Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts - es waren u. a.
Kirchhoff und Bunsen in Heidelberg, Mitscherlich, Magnus und Rose in
Berlin und schließlich Friedrich Wöhler in Göttingen,
bei dem er mit einer Arbeit "Über isomorphe Mischungen der
selensauren Salze" promovierte.
In seine Studienzeit fällt
auch die erste Begegnung mit der
Wissenschaftsgeschichte. In einem Brief von 1857 beschreibt der
Berliner Student zunächst eine Chemievorlesung bei Eilhard
Mitscherlich und fährt dann fort: "Das Bild wechselt, und ein
ergrauter Weiser bietet Geschichte der Physik. [...] In
ansprechenden Bildern entfaltet unser Führer die
Lebensgeschichte ringender Geister; zufrieden ist keiner gewesen."
Der "ergraute Weise" war Johann
Christian Poggendorff, der in Berlin
Physikgeschichte im Rahmen eines Lehrauftrags unterrichtete.
Nach seiner Rückkehr nach Hamburg
nahm Wohlwill verschiedene
Tätigkeiten an, die er mit wechselnder Intensität
nebeneinander ausübte. Er unterrichtete Physik an der
Polytechnischen Vorbildungsanstalt und der Bauschule, zwei
Vorgängerinstitutionen der heutigen Fachhochschule. Ferner war
er freiberuflich als beeidigter Handelschemiker tätig, und
schließlich arbeitete er als analytischer Chemiker für die
Elbhütten-Affiniergesellschaft, ein Unternehmen zur
Verhüttung von Buntmetallen. Die Tätigkeit für diese
Firma, die ihn 1877 unter festen Vertrag nahm, war mit Wohlwills
größtem wissenschaftlichen und beruflichen Erfolg
verbunden. Seit 1873, als er auf der Wiener Weltausstellung die neue
elektrodynamische Maschine von Gramme gesehen hatte, arbeitete er an
der Entwicklung eines elektrolytischen Verfahrens zur Scheidung von
Buntmetallen. 1875 wurde die erste von ihm entwickelte Anlage zur
Scheidung von Kupfer und Silber in Betrieb genommen, und wenig
später war er auch bei der wesentlich schwierigeren Raffination
des Goldes auf elektrolytischem Wege erfolgreich. Dieses Verfahren
ist in der Fachliteratur als "Wohlwill-Prozeß" oder
"Wohlwillsche Goldelektrolyse" bekannt geworden und wird bis heute
praktiziert.
Unmittelbar nach Abschluß
seines naturwissenschaftlichen
Studiums wandte sich Wohlwill der Wissenschaftsgeschichte zu, und
kurz nach 1860, im Alter von noch nicht 30 Jahren, begann für
ihn, was er 40 Jahre später "die Geschichte einer
unglücklichen Neigung" genannt hat. Dieser Neigung hat Wohlwill
einen so großen Teil seiner Arbeitskraft geopfert, daß man
ihn gewiß nicht zu den zahlreichen Gelegenheitshistorikern
unter den Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts rechnen darf,
gegen die er selbst oft und mit großer Schärfe polemisiert
hat. Liebigs Arbeit über Bacon und Ramsays Ausführungen
über Boyle waren für ihn Beispiele dafür, wie die
Bestrebungen einer ernsthaften Historiographie der Wissenschaften
durch historische Arbeiten angesehener Naturforscher eher
beeinträchtigt als gefördert werden. "Naturforscher als
Historiker der Naturwissenschaften" war der Titel seines letzten, in
seinem Todesjahr 1912 erschienenen Aufsatzes, in dem er darüber
klagte, "daß Männer, die in dem eigentlichen Bereich ihrer
Forschung als Meister der Genauigkeit Großes und
Größtes erreichen, es nicht für geboten halten, auch
nur oberflächlich genau zu sein, wenn geschichtliche Fragen den
Gegenstand ihrer Erörterungen bilden".
Wohlwill nahm die Wissenschaftsgeschichte
ebenso ernst wie seine
elektrochemischen Forschungen, und wenn er ein Jahrhundert
später gelebt hätte, hätte er gewiß alles daran
gesetzt, daraus seinen Hauptberuf zu machen. Dazu war die Zeit aber
noch nicht reif, und es war der schon erwähnte Poggendorff, der
ihm 1863 in einem persönlichen Gespräch davon abriet, sich
ganz und gar der Geschichte der Physik zu widmen.
Es fällt auf, daß es die
Geschichte der Physik war, die
Wohlwill faszinierte, obwohl er selbst Chemiker war. Er hat die Wahl
seines historischen Arbeitsgebietes nie begründet, aber bei der
Lektüre seiner Veröffentlichungen erkennt man leicht,
warum er sich, von zwei chemiegeschichtlichen Artikeln abgesehen,
ausschließlich als Physikhistoriker betätigt hat. Wohlwill
teilte den Fortschrittsglauben der meisten seiner Zeitgenossen, und
in der Physikgeschichte fand er die eindrucksvollsten Zeugnisse
für den Kampf zwischen dem Alten und Überlebten auf der
einen und dem Neuen und Modernen auf der anderen Seite, einen Kampf,
in dem er bewußt und engagiert Stellung bezog für das
Neue. Besonders ausgeprägt war für ihn dieser Kampf in der
frühen Neuzeit gewesen, und schon als 32jähriger, noch
bevor die erste wissenschaftshistorische Publikation aus seiner
Feder erschienen war, hatte er beschlossen, über die Entstehung
eines neuen wissenschaftlichen Weltbildes im 17. Jahrhundert zu
arbeiten. Er schwankte lediglich, ob er Galilei oder Kepler zum
Gegenstand seiner ersten Forschungen machen sollte. Er entschied
sich schließlich für Galilei, und im November 1869 hoffte
er, sein Galilei-Buch bis Ostern des kommenden Jahres
abzuschließen, um dann eins über Gilbert zu schreiben.
Das Galilei-Buch, das Ostern 1870
abgeschlossen sein sollte, ist nie
vollendet worden. Nach 40 Jahren erschien schließlich nach
mehreren kleineren Veröffentlichungen der erste Band; der
zweite wurde erst 1926 aus dem Nachlaß veröffentlicht.
Für Wohlwill war Galileis Leben
exemplarisch für den Kampf
zwischen und Wahrheitsliebe auf der einen, Reaktion und
Obskurantismus auf der anderen Seite. Er forderte ausdrücklich,
um diesen Aspekt herauszuarbeiten, müsse man die Dokumente "mit
unseren Augen lesen" - nämlich mit den Augen des liberalen
Bürgers des 19. Jahrhunderts. Entsprechend kämpferisch war
auch der Titel, den er seinem Buch gab: Galilei und sein Kampf
für die copernicanische Lehre.
Ich will nicht weiter auf die
subjektiven und zeitgebundenen Aspekte
in Wohlwills Galilei-Forschungen eingehen, auch nicht auf die
Irrtümer, die ihm unterlaufen sind und die andere später
korrigiert haben. Wichtiger ist, was den bleibenden Wert seiner vor
rund 100 Jahren entstandenen Arbeiten ausmacht. Im Gegensatz zu den
von ihm kritisierten Amateurhistorikern unter seinen
naturwissenschaftlichen Fachkollegen legte er Wert darauf, auch in
der Wissenschaftsgeschichte ein "Meister der Genauigkeit" zu sein.
Das gründliche Studium aller verfügbaren Quellen war
für ihn die unerläßliche Voraussetzung jeder
wissenschaftshistorischen Arbeit. Er lernte deshalb italienisch und
unternahm eine längere Italienreise, bei der er u. a. mit dem
großen Galilei-Forscher Antonio Favaro zusammentraf und in den
Vatikanischen Archiven die Akten des Galilei-Prozesses und andere
Dokumente durcharbeitete. Ein Blick auf sein Quellenverzeichnis
zeigt, daß in der flutartig angeschwollenen Galilei-Literatur,
die seitdem erschienen ist, kaum neues Material hinzugekommen ist -
lediglich die Interpretation hat sich geändert.
Durch sein gründliches
Quellenstudium ist Wohlwill zu einer
großen Zahl von gesicherten und bis heute unbestrittenen
Einzelergebnissen gelangt, die die Entstehung der galileischen
Physik betreffen. Ich will hier nur eines jener Resultate von
Wohlwills Galilei-Forschungen nennen, das in jeder neueren
Galilei-Biographie angeführt wird, wobei der Hinweis auf
Wohlwill freilich meistens fehlt. Er hat als erster gezeigt,
daß Galilei die Fallgesetze nicht aus Experimenten mit
fallenden Steinen abgeleitet haben kann, wie sein erster Biograph
Viviani behauptet hatte. Es ist ihm allerdings nicht gelungen, auch
die Autoren von Lehrbüchern der Physik von dieser Legende
abzubringen, die bis heute nicht auf das Bild oder die Geschichte
des jungen Galilei verzichten wollen, der vom Schiefen Turm von Pisa
Steine herabfallen läßt.
Wir haben gehört, daß
Wohlwill aus einem jüdischen
Elternhaus stammte. Er hat sich jedoch zeit seines Lebens vom
orthodoxen Judentum distanziert und bewußt als Deutscher
gefühlt, ohne einer religiösen Institution oder Gruppe
anzugehören. Fichtes Reden an die deutsche Nation waren
für ihn "das größte, schönste Buch, das ich in
deutscher Sprache kenne"; sie bestimmten sein Verhältnis zu
Deutschland und stärkten, was er seinen
"Nationalitätsgeist" nannte. "Ich fühle mich so
vollständig deutsch, daß ich eine Art Selbstvernichtung
begehen müßte, um auf die Dauer und ohne zwingende
Verhältnisse ausser Deutschland zu leben", heißt es in
einem Brief von 1859, und ähnliche Äußerungen finden
wir immer wieder. In diesem nationalen und liberalen Geist wurden
auch seine fünf Kinder erzogen, von denen zwei später im
Konzentrationslager Theresienstadt ums Leben gekommen sind.
Ich deutete an, daß
Wohlwill von der Wissenschaftsgeschichte
als einer unglücklichen Neigung gesprochen hat.
Unglücklich war er unter anderem darüber, daß es in
Hamburg keine Möglichkeit zu einem persönlichen
wissenschaftlichen Gedankenaustausch mit Kollegen und Freunden gab,
die seine Interessen teilten, und daß auch außerhalb
seiner Heimatstadt dazu kaum Gelegenheit bestand. Daher
begrüßte er 1901 mit großer Begeisterung Karl
Sudhoffs Aufruf zur Gründung einer wissenschaftshistorischen
Fachgesellschaft, die ihn sofort in den Vorstand wählte und zu
ihrem ersten Schatzmeister ernannte. Dieses Amt bekleidete er bis zu
seinem Tod am 2. Februar 1912.
Andreas Kleinert
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