Maria Gaetana Agnesi und Laura Bassi - zwei italienische gelehrte
Frauen im 18. Jahrhundert
Vor über 10 Jahren sammelte ich für einen Artikel zum Thema "Frauen in den
Naturwissenschaften" auch Literatur über die beiden Italienerinnen Maria Gaetana Agnesi und
Laura Bassi. Da es sich um entlegene und schwer zu beschaffende italienische Publikationen
handelt, erhielt ich die meisten dieser Texte erst, als der Artikel längst
fertig war1. Ich habe daher
gern die Gelegenheit wahr- genommen, im Rahmen dieses Kolloquiums auf die damals
gesammelte Literatur zurückzugreifen und über jene beiden gelehrten Frauen vorzutragen.
Maria Gaetana Agnesi
Maria Gaetana Agnesi lebte von 1718 bis 1799. Bereits im Jahr ihres Todes erschien in
Mailand über sie eine 116 Seiten starke Gedenkschrift, bei der schon der Titel ahnen läßt, daß es
sich mehr um Hagiographie als Historiographie handelt: Elogio storico di Donna Maria Gaetana
Agnesi. Der Verfasser war der Priester Antonio Francesco Frisi, ein Bruder des Mathematikers
Paolo Frisi2.
Auf die Biographie Frisis haben 100 Jahre lang all diejenigen zurückgegriffen, die über
Maria Agnesi geschrieben haben. Erst im Jahre 1900 erschien eine Biographie, die über Frisi
hinausgeht, und zwar ganz erheblich: Sie ist fast 500 Seiten lang und stammt von Luisa
Anzoletti3. Sie schreibt, daß die Biographen der letzten 100 Jahre (Frisi eingeschlossen) mit einer
Art von religiöser Scheu diejenige Quelle unberührt gelassen hätten, die man zuerst hätte
heranziehen müssen4, nämlich den schriftlichen Nachlaß - Briefe und Manuskripte, die
insgesamt 25 gebundene Konvolute darstellen und in der Biblioteca Ambrosiana in Mailand
aufbewahrt werden. Luisa Anzoletti hat das als erste getan und dabei vieles, was bis dahin
geschrieben worden war, als Legende entlarven können. Dies freilich mit unterschiedlichem
Erfolg.
So begegnet man z.B. immer wieder - bis hin zum Dictionary of Scientific Biography -
der Behauptung, Maria Agnesi sei die Tochter eines Mathematikprofessors aus Bologna
gewesen. Tatsächlich war Maria Agnesis Vater jedoch ein wohlhabender Textilkaufmann in
Mailand, der vor allem mit Seide handelte. Die Erziehung, die er seinen Töchtern angedeihen
ließ, hing eng mit seinen gesellschaftlichen Ambitionen zusammen. Dadurch, daß er mit ihnen
auf Empfängen im eigenen Hause glänzen konnte, die denen der adligen Häuser nicht
nachstanden, waren sie für ihn ein Mittel, um in der Gesellschaft aufzusteigen - genau wie der
Adelstitel, den er sich 1740 gekauft hat.
Maria Gaetana war das älteste Kind von insgesamt 21 Geschwistern. Schon als Kind fiel
sie dadurch auf, daß sie sehr leicht fremde Sprachen lernte. Ihr Vater ließ sie zusammen mit
ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Teresa Maria von Privatlehrern erziehen, die zumeist dem
geistlichen Stande angehörten. Die beiden Schwestern galten als Wunderkinder. 1723 erschien in
Mailand ein Sonett "zu Ehren des Mädchens Maria Gaetana Agnesi, das im Alter von fünf
Jahren wunderbar französisch spricht"5, und vier Jahre später sprach sie angeblich so gut Latein,
daß sie während einer im Garten des väterlichen Hauses stattfindenden Abendgesellschaft eine
in bestem ciceronianischem Latein verfaßte Rede über das Frauenstudium vortragen konnte6.
Mit elf Jahren soll sie das Griechische so weit beherrscht haben, daß sie lateinische Texte
spontan dorthin übersetzen konnte. Dann lernte sie noch Deutsch, Spanisch und Hebräisch
und wurde fortan als "oracolo settelingue", das siebensprachige Wunder, gefeiert.
Bei den Sprachen blieb es aber nicht. Bei ausgezeichneten Lehrern, die ihr Vater ins
Haus holte, lernte sie Mathematik, Physik und Philosophie, und als sie 20 Jahre alt war, erschien
unter ihrem Namen ein Buch mit dem Titel Propositiones philosophicae7. Es enthält 191
Thesen, die Maria Agnesi in Streitgesprächen mit gelehrten Zeitgenossen verteidigt hatte. Diese
Disputationen hatten in ihrem väterlichen Hause stattgefunden, und zwar bei gesellschaftlichen
Ereignissen, die man als akademische Parties bezeichnen könnte und bei denen der Hausherr
seine beiden Töchter der vornehmen Gesellschaft vorführte, zu der er sich auf diese Weise
Zugang zu verschaffen suchte. Neben den angesehenen Familien Mailands wurden zu solchen
Anlässen auch hochstehende Ausländer eingeladen, die sich gerade in Mailand aufhielten, und so
kommt es, daß Maria Agnesi mehrfach in der Reiseliteratur jener Zeit erwähnt wird. Der
bekannteste französische Italienreisende des 18. Jahrhunderts, Charles de Brosses, besuchte ihr
Elternhaus am 16. Juli 1739 und berichtet darüber wie folgt:
Ich wurde in einen großen, schönen Raum geführt, in dem dreißig Personen aus allen Völkern
Europas im Kreise um Fräulein Agnesi herumsaßen, die zusammen mit ihrer jüngeren
Schwester auf einem Sofa saß. Sie ist ein junges Mädchen mit hübschen, frischen Farben,
zwischen achtzehn und zwanzig, nicht hübsch, nicht häßlich, von schlichtem und sanften
Wesen. [...] Ich hatte mich auf die bei solchen Anlässen übliche Konversation mit diesem
Mädchen eingestellt. Graf Belloni, der mich mitgenommen hatte, wollte daraus jedoch ein
öffentliches Ereignis ("une espèce d'action publique") machen. Er wandte sich an das Mädchen
mit einer eleganten lateinischen Ansprache, die von jedermann gehört werden konnte, worauf
sie ihm flüssig antwortete. Nun disputierten die beiden auf lateinisch weiter über die
Entstehung der Quellen und die Ursachen der Ebbe und Flut, die einige von ihnen ebenso wie
das Meer zeigen. Sie sprach wie ein Engel über dieses Thema. [...] Dann forderte mich Belloni
auf, mit ihr über ein beliebiges Thema aus der Philosophie oder der Mathematik zu
disputieren. [...] Wir sprachen erst über die Frage, wie die Seele von körperlichen
Gegenständen erregt werden kann und wie diese Eindrücke dann zum Gehirn gelangen; dann
über die Lichtemission und über die Grundfarben. Loppin [ein anderer Begleiter von de
Brosses] unterhielt sich mit ihr über die Durchsichtigkeit der Körper und über die
Eigenschaften gewisser geometrische Kurven, wovon ich nichts verstand. Er sprach
französisch mit ihr, und sie bat ihn um Erlaubnis, lateinisch zu antworten, da sie befürchtete,
die französischen Fachausdrücke würden ihr nicht einfallen. Sie sprach in bewundernswerter
Weise über all diese Gegenstände, auf die sie sich gewiß ebensowenig vorbereitet hatte wie
wir. Sie ist eine überzeugte Anhängerin der Philosophie Newtons, und es ist fabelhaft, wie die
junge Person diese abstrakten Dinge verstanden hat. [...] Als sie Loppin geantwortet hatte,
standen wir auf und die Unterhaltung wurde allgemein. Jeder sprach zu ihr in der Sprache
seines Landes, und jedem gab sie in seiner Muttersprache Antwort. [...] Als das Gespräch
zuende war, spielte ihre jüngere Schwester auf dem Cembalo so schön wie Rameau; zuerst
einige Stücke von Rameau, dann eigene Kompositionen, wobei sie ihren eigenen Gesang
begleitete.8
Eine ähnliche Veranstaltung fand im November desselben Jahres statt, als der Herzog von
Braunschweig-Wolfenbüttel in Mailand war. Die Schwestern, die sich noch auf dem Lande
aufhielten, mußten schnellstens nach Mailand kommen, um in Anwesenheit des hohen Herrn zu
musizieren bzw. über die Ursache der Planetenbewegung und über die Natur der Farben zu
disputieren. Dasselbe wiederholte sich wenige Tage später, als der älteste Sohn des sächsischen
Kurfürsten und polnischen Königs August des Starken zu Besuch war. Diesmal berichtete sogar
die Lokalpresse über das Ereignis9.
Je berühmter sie wurde, um so unglücklicher war Maria Gaetana Agnesi mit ihrer Rolle
als Wunderkind, die sie im väterlichen Hause zu spielen hatte, und Anfang 1740, beschloß sie, in
ein Kloster einzutreten. Diese Entscheidung traf ihren Vater wie ein Schlag, und um seine
geliebte und bewunderte Tochter nicht zu verlieren, versprach er ihr, daß sie sich in Zukunft
von allen ge- sellschaftlichen Ereignissen fernhalten dürfe, wenn sie nur in ihrem Elternhaus
bliebe.
Damit begann für Maria Gaetana ein neues Leben. Sie las theologische Schriften, und sie
widmete sich intensiv der Mathematik. Einer ihrer Lehrer wurde Ramiro Rampinelli, ein Mönch,
der in Rom und Bologna Professor für Mathematik gewesen war, bevor er nach Mailand kam.
Unter seiner Anleitung und im Selbststudium studierte sie vor allem die damals "neue
Mathematik", die Infinitesimalrechnung, und sie verfaßte einen Kommentar zu einem der ersten
Lehrbücher auf diesem Gebiet, dem Traité analytique des sections coniques des Marquis de
l'Hôpital, der allerdings nicht veröffentlicht wurde. Ab 1745 korrespondierte sie mit dem
Mathematiker Jacopo Riccati, und 1748 erschien das Werk, durch das sie als Mathematikerin
weithin bekannt wurde: die zweibändigen, über 1000 Seiten starken Instituzioni analitiche ad
Uso della Gioventù Italiana (Lehrbuch der Analysis für die italienische Jugend). Das Buch war
der Kaiserin Maria Theresia gewidmet, die sich mit einem kostbaren Geschenk dafür bedankte.
Die erste wissenschaftliche Ehrung, die Maria Agnesi daraufhin erhielt, war die Wahl in die
Akademie von Bologna.
Bologna gehörte damals zum Kirchenstaat, und ihre Aufnahme in die Akademie erfolgte
auf die direkte Veranlassung des Papstes Benedikt XIV, dem sie ein Exemplar des Buches
geschickt hatte. Kurz darauf ernannte die Universität von Bologna sie zur "Lektorin
ehrenhalber" (lectrix honoraria), und 1750 berief sie Benedikt XIV auf eine Lehrstuhl für
Mathematik an dieser Hochschule. Sie hat allerdings, entgegen den Behauptungen einiger
Biographen, nie tatsächlich in Bologna Mathematik unterrichtet.
Als weitere Zeichen der Anerkennung seien noch die lobenden Besprechungen erwähnt,
die in zahlreichen Zeitschriften erschienen, darunter in den Acta Eruditorum vom Oktober
175010, und eine sehr schmeichelhafte Stellungnahme der Pariser Akademie der Wissenschaften.
1775 wurde der zweite Band, in dem die eigentliche Infinitesimalrechnung behandelt wird, ins
Französische übersetzt11; 1801 erschien eine englische Übersetzung12.
Maria Gaetana Agnesi hätte somit im Jahre 1750, als sie 32 Jahre alt war, eine glanzvolle
Karriere als Wissenschaftlerin antreten können - sie war berühmt und hatte eine Professur an
einer angesehenen Universität. Ihr weiteres Leben verlief jedoch ganz anders. Sie blieb in
Mailand und widmete sich zunächst der Erziehung ihrer jüngeren Geschwister, insbesondere
nach dem Tode ihres Vaters, der 1752 starb. Dann betätigte sie sich bis zu ihrem Lebensende
als christliche Wohltäterin. Sie war zwar als Zwanzigjährige nicht ins Kloster eingetreten, aber
jetzt lebte sie so, als hätte sie es getan. Sie las christliche Literatur, verfaßte selbst religiöse
Schriften, die nur als Manuskripte erhalten sind, und kümmerte sich um kranke und mittellose
Frauen in ihrer Heimat- stadt, für die sie eine Art Hospiz gründete. Für diese ihre Schützlinge
opferte sie ihr gesamtes Vermögen, selbst den kostbaren Ring, den sie von Maria Theresia
erhalten hatte. Sie geriet als Mathematikerin nicht in Vergessenheit, hatte sich aber von der
Wissenschaft völlig abgewandt.
Luisa Anzoletti hat in ihrem Buch eine Fülle von Quellen zusammengestellt, die die auf
Lobreden und Berichte aus dem 18. Jahrhundert zurückgehende Legende vom vielsprachigen, in
allen Wissenschaften bewanderten Wunderkind weitgehend relativieren. Sicherlich war Maria
Agnesi sehr begabt, was das Lernen fremder Sprachen angeht, aber ihre Auftritte bei den Festen
und Empfängen in ihrem Elternhaus waren genauso einstudiert und trainiert wie die
musikalischen Darbietungen ihrer Schwester. Die lateinische Rede über das Frauenstudium, die
sie im Alter von neun Jahren gehalten hat, hat sie, entgegen den Behauptungen einiger
Autoren13, sicher nicht selbst verfaßt, und auch Frisi geht zu weit, wenn er ihr unterstellt, sie
habe hier ihre eigenen Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck gebracht14. Vergleicht man
die Berichte über die wissenschaftlichen Diskussionen, die sie geführt hat, so fällt auf, daß es
dabei immer um dieselben Gegenstände ging, und die angeblich improvisierten Gespräche über
beliebige Themen waren offenbar sorgfältig vorbereitet. In ihrem Nachlaß fand Luisa Anzoletti
u.a. ein Repertoire von lateinischen Sätzen, die die Antworten auf zu erwartende Fragen
darstellten. Diese Textbausteine hatte sie im Kopf und konnte damit die Gäste ihres Vaters
verblüffen15.
Als Maria Gaetana Agnesi beschloß, ein Lehrbuch der Infinitesimalrechnung zu
schreiben, hat sie - modern gesprochen - eine Marktlücke entdeckt. Das erste Lehrbuch dieser
Art war die rund 50 Jahre früher erschienene Analyse des infiniments petits des Marquis de
l'Hôpital gewesen; dann gab es noch das Lehrbuch des französischen Oratorianers Charles
Reyneau von 1707/08, das Maria Agnesi benutzt hat und das nach dem Urteil von Zeitgenossen
und von späteren Mathematik- historikern schwer verständlich und voller Fehler war16.
Inzwischen hatte sich dieser Zweig der Mathematik aber erheblich weiterentwikelt, und es war
höchste Zeit, all das, was seit dem Beginn des Jahrhunderts an Neuem dazu gekommen war, in
einem Lehrbuch zu berücksichtigen. Genau das hat Maria Gaetana Agnesi getan, wobei es ihr,
wie sie im letzten Satz der Einleitung betont, darum ging, sich mit der größtmöglichen Klarheit
auszudrücken17. Nach dem Urteil Masottis hat sie dieses Ziel glänzend erreicht18.
Freilich haben zur gleichen Zeit auch andere die Notwendigkeit gesehen, ein modernes
Lehrbuch der Infinitesimalrechnung zu schreiben, darunter Leonhard Euler, dessen Introductio
in analysin infinitorum im selben Jahr 1748 erschienen ist. Zwei Jahre später folgte die
Introduction à l'analyse des lignes courbes algébriques von Gabriel Cramer, und damit war, wie
Gino Loria schon 1899 feststellte19, Maria Agnesis Buch praktisch überholt.
Während Loria jedoch schreibt, die Instituzioni seien von Eulers Introductio erst nach
langem Kampf besiegt worden, denn schließlich sei noch 1775 und 1801 eine französische bzw.
englische Übersetzung erschienen, äußert sich Clifford Truesdell in einem kürzlich erschienenen
Aufsatz erheblich kritischer über das Buch und seine Wirkung20. Zu den zeitgenössischen
Wür- digungen bemerkt er, daß vieles daran Routine gewesen sei, erklärbar aus der Mode der
Zeit, Frauen mit Komplimenten zu überschütten: "Many of the compliments paid to Maria
Gaetana seem routine. All of those printed refer with praise and amazement to the rarity of her
achievements for one of her sex ('una donzella' etc.)."21 Auch der Rezensent, der die Instituzioni
analitiche in den Acta eruditorum besprochen hat, bezeichnet die Autorin als eine "Foeminam
doctissimam, quae [...] sui sexus est unica"22. Zu dem Bericht der französischen Akademie stellt
Truesdell fest, daß er von Dortous de Mairan und Montigni unterzeichnet ist. Letzterer sei völlig
unbekannt, und Dortous de Mairan sei ein spekulativer Physiker und schlechter Mathematiker
gewesen. Bezeichnend sei, daß die Unterschriften der wirklich großen Pariser
Mathematiker jener Zeit fehlten: d'Alembert und Clairaut. Außer Riccati, der ihr bei dem Buch geholfen
habe, habe kein einziger unter den bekannten Mathematikern des 18. Jahrhunderts mit ihr
korrespondiert. Das Buch sei zwar als Werk einer Frau viel gepriesen worden, gelesen habe es
aber kaum jemand, weder in Italien noch anderswo. Sie habe es zwar an einige berühmte Leute
und an Akademien geschickt, junge Italiener, für die es angeblich geschrieben war, hätten das als
Privatdruck in ihrem Hause hergestellte Buch aber gar nicht kaufen können, da es im Handel
nicht erhältlich war. Die Bedeutung der Über- setzungen sei stark überschätzt worden. Der
einzige große Mathematiker des 18. Jahrhunderts, der Maria Agnesis Buch erwähnt, sei
Lagrange, und das in einer handschriftlichen Notiz, die erst 1987 veröffentlicht worden sei.
Unter den Kurven, die in dem Lehrbuch beschrieben werden, ist auch die sogenannte
Versiera, die in der mathematischen Literatur häufig nach Maria Agnesi benannt wird. Truesdell
weist darauf hin, daß sich schon Pierre de Fermat (1601-1665) mit dieser Kurve beschäftigt hat
und daß der Name Versiera auf Guido Grandi (1671-1742) zurückgeht.
Laura Bassi
Laura Bassi (1711-1778) lebte in Bologna; sie hat diese Stadt zeit ihres Lebens nicht verlassen23.
Ihr Vater, ein Jurist, wird als "modesto causidico"24 bezeichnet, scheint also nicht übermäßig
reich gewesen zu sein. Allerdings hatte er nur ein einziges Kind, eben jene Laura. Daß sie ein
überdurchschnittlich begabtes Mädchen war, fiel als erstem einem älteren Vetter auf, der
Priester war und in ihrem Elternhaus ein- und ausging. Jener Vetter brachte ihr Latein bei, das
sie mit großer Leichtigkeit lernte. Ihr eigentlicher Lehrer wurde jedoch der Hausarzt der Familie,
ein Medizinprofessor namens Gaetano Tacconi. Als er einmal ihre Mutter behandelte, bat er die
zwölfjährige Laura, aufzuschreiben, was er ihr über die Krankheit der Mutter und über die
vorgesehene Therapie sagen werde. Als diese ihm daraufhin nach kurzer Zeit zwei Texte mit
dem gewünschten Inhalt aushändigte, von denen der eine französisch und der andere lateinisch
abgefaßt war, beschloß er, das begabte Mädchen weiter zu fördern und ihm Privatunterricht zu
geben. Sieben Jahre lang unterrichtete er sie in Logik, Metaphysik und Physik.
Der Unterricht blieb ein Geheimnis; weder Laura noch ihre Eltern legten Wert darauf,
daß diese ungewöhnliche Ausbildung bekannt wurde. Erst als sie 19 Jahre alt war, wollte ihr
Lehrer das Ergebnis seiner pädagogischen Bemühungen anderen vorführen, und Anfang 1732
fand die erste private Disputation in ihrem Elternhaus statt, zu der Tacconi einige seiner
Kollegen von der Universität einlud, die dem Mädchen allerlei Fragen stellten. Die Herren
waren so beeindruckt, daß sie die Familie überredeten, Lauras Kenntnisse und Fähigkeiten in
einer öffentlichen Disputation vorzuführen, und nach einigem Zögern stimmte die Familie auch
zu.
Diese Veranstaltung, die später als "Laura Bassis erster Triumph" bezeichnet wurde, war
für Bologna ein großes Spektakel, über das ausführlich berichtet worden ist. Die einflußreichsten
Personen der Stadt sorgten durch ihre Mitwirkung an dem Ereignis dafür, daß sich alle
Hono- ratioren am 12. April 1732 im Rathaus einfanden, wo Laura Bassi über zwei Stunden lang
öffentlich geprüft wurde. Alle Anwesenden konnten zu den 49 Thesen, die sie zu verteidigen
hatte, Fragen stellen. 18 dieser Thesen waren "ex physica".
Das Ergebnis war so eindrucksvoll, daß die einflußreichen Gelehrten der Stadt
beschlossen, Laura Bassi nun auch einer regulären Doktorprüfung zu unterziehen. Diese fand
einen Monat später statt und war eine reine Formalität, die vor allem durch das Zeremoniell
Aufsehen erregte. Inmitten eines Festzugs von 18 Kutschen wurde die Kandidatin von der
Universität zum Rathaus gefahren, um dort in einem festlichen Schauspiel im Anschluß an
mehrere Ansprachen mit den Insignien der Doktorwürde versehen zu werden. Bei beiden
Anlässen entstanden viele Gelegenheitsgedichte begeisterter Mitbürger, in denen immer wieder
das Wortspiel von Laura und dem italienischen Wort für Doktorprüfung (laurea oder
laureazione) variiert wird25. Nach einer dritten Disputation, die ähnlich ablief wie die beiden
ersten, wurde Laura Bassi schließlich auch noch zur Professorin für Philosophie an der
Universität ernannt.
Freilich gab es auch Stimmen, die fanden, daß hier reichlich übertrieben wurde. "Für
viele war die allgemeine Bewunderung zu einem Delirium entartet"26, und nach Ansicht des
Philosophen und Sekretärs der Bologneser Akademie Francesco Maria Zanotti war man dabei,
Erwartungen an sie zu stellen, die sie in ihrem Alter unmöglich erfüllen könnte - die Bologneser
seien beim übertriebenen Lob dieses Kindes verrückt geworden27. Wie dem auch sei: Seit dem
Studienjahr 1732/33 taucht Laura Bassi im Vorlesungsverzeichnis der Universität Bologna als
Professorin für Philosophie auf. Das heißt freilich nicht, daß sie nun regelmäßig gelehrt hätte. In
der Ernennungsurkunde heißt es nämlich auch, daß sie wegen ihres Geschlechtes nur dann
lehren dürfe, wenn dies vom Magistrat ausdrücklich angeordnet werde. Solche Anordnungen
erfolgten nur sehr sporadisch, insbesondere bei Disputationen, zu denen sie als Fragestellerin
eingeladen wurde.
Wir wissen nicht, wie Laura Bassi sich fühlte, als sie plötzlich derart im Zentrum der
allge- meinen Aufmerksamkeit stand. Sechs Jahre lang spielte sie die Rolle der gelehrten Frau, die
man von ihr erwartete. Durch Selbststudium und Unterricht vertiefte sie ihre Kenntnisse in
Mathematik und Physik, und wie Maria Gaetana Agnesi wurde auch sie von vielen mehr oder
auch weniger berühmten Reisenden, die nach Bologna kamen, besucht und bewundert.
Als sie 26 Jahre alt war, enttäuschte sie viele ihrer Bewunderer durch einen Schritt, der
so gar nicht zu dem Bild paßte, das man sich bisher von ihr gemacht hatte. Sie heiratete
nämlich, und der Mann ihrer Wahl wurde von vielen als Mesalliance angesehen. Es war der Arzt
Giovanni Verati, von dem ein Zeitgenosse feststellte, er zeichne sich weder durch Herkunft,
noch durch Reichtum, noch durch wissenschaftliche Verdienste aus. Von einer Minerva, mit der
Laura Bassi in den Lobgedichten mehrfach verglichen worden war, erwartete man auch, daß sie
jungfräulich blieb, und als sie dieser Erwartung nicht entsprach, machten sie dieselben Kreise,
die sie so gefeiert hatten, jetzt zum Gegenstand ihres Spottes. In einer zeitgenössischen Quelle
heißt es:
Mit dieser Heirat war man in der Stadt nicht zufrieden, und man spottete darüber. Der
Bräutigam war ein junger Mann ohne jedes Verdienst, und man meinte, die Braut hätte besser
daran getan, als Jungfrau ein zurückgezogenes Leben zu führen.28
Als besonders skandalös wurde auch empfunden, daß das junge Paar im Haus der Familie der
Frau wohnte. In einer kurz nach Laura Bassis Tod erschienenen Biographie heißt es, sie habe
geheiratet, da es für eine Frau, die so viel Besuch empfing und häufig in der Öffentlichkeit
auftrat, einfach schicklich gewesen sei, einen Ehemann zu haben29. Ihr Biograph und
Nachfahre Giam- battista Comelli schreibt freilich, der junge Verati habe ihr einfach gefallen,
und die nun folgende vierzigjährige glückliche Ehe sei der Beweis dafür, daß die Entscheidung
richtig war. Sie bekam acht Kinder, von denen fünf überlebten.
Die Eheschließung war jedoch nicht das Ende ihrer wissenschaftlichen Aktivität. Das
Gebiet, auf das sie sich neben ihrem Haushalt und der Erziehung ihrer Kinder konzentrierte,
war die Physik, und dabei war sie durchaus erfolgreich.
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß das allgemeine Interesse an der Physik, und
insbesondere an physikalischen Experimenten, im 18. Jahrhundert sehr groß war - so groß,
daß die Universitäten die Nachfrage nach entsprechender Unterweisung nicht befriedigen
konnten. Viele z.T. sehr berühmte Physiker erteilten deshalb Privatunterricht; das bekannteste
Beispiel sind die privaten Vorlesungen des Abbé Nollet in Paris. Einen solchen Privatkurs in
Experimentalphysik führte auch Laura Bassi in ihrem Haus in Bologna durch. Sie selbst
berichtet darüber in einem Brief aus dem Jahre 1755:
Ich begann vor sechs Jahren, in meinem Haus private Physikvorlesungen zu halten, bei denen
ich acht Monate im Jahr täglich Unterricht gab, der von Experimenten begleitet war. Ich hatte
auf meine Kosten alle dafür notwendigen Geräte anfertigen lassen; dazu kamen die, die mein
Mann früher hergestellt hatte, als er Philosophie [gemeint ist "philosophia naturalis", also
Naturwissenschaft] unterrichtet hatte. Die Veranstaltung wird so gut besucht, daß statt der
Jugend nun ältere und erfahrene Leute kommen, darunter viele Fremde, und ich sehe mich
gezwungen, meine Gerätesammlung erheblich zu vergrößern.30
Sie stellte auch eigene Forschungen an, über die sie regelmäßig in der Akademie von Bologna
vortrug. Besonders bemerkenswert sind die Experimente, in denen sie die Grenzen der
Gültigkeit des Boyle-Mariotteschen Gesetzes aufzeigt. Francesco Maria Zanotti, der Sekretär der
Akademie, hat diese originelle Untersuchung anerkennend in den periodisch erscheinenden
Berichten der Akademie beschrieben, in denen auch zwei Abhandlungen von Laura Bassi selbst
erschienen sind31. Anders als Maria Agnesi stand sie mit vielen berühmten Wissenschaftlern
ihrer Zeit im Briefwechsel. Zu ihren Korrespondenten gehörten nicht nur Literaten und
Gelegenheitsphysiker wie Algarotti und Voltaire, sondern auch Gelehrte wie Lalande,
Boscovich, Frisi, Nollet, Beccaria, Haller und Spalllanzani. Besonders interessiert war sie an den
Arbeiten des 34 Jahre jüngeren Alessandro Volta, der einer ihrer letzten Korrespondenten war32.
Zwei Jahre vor ihrem Tod, 1776, wurde sie als Nachfolgerin des Experimentalphysikers
Giovanni Battista Balbi in die Bologneser Akademie aufgenommen.
_____________________________
Ich verzichte auf allgemeine Betrachtungen zum Thema "Frauen und Naturwissenschaft
im 18. Jahrhundert", wozu man Vergleiche mit Wissenschaftlerinnen aus anderen Ländern
anstellen müßte, insbesondere aus England, Deutschland und Frankreich. Bemerkenswert bei
Maria Gaetana Agnesi und Laura Bassi scheint mir der Umstand zu sein, daß im 18. Jahrhundert
in Italien, noch dazu in dem als Teil des Kirchenstaates direkt vom Papst beherrschten
Bologna, Frauen mit natur- wissenschaftlicher oder mathematischer Neigung und Begabung in
ihrer Entfaltung weit mehr Unterstützung fanden als nördlich der Alpen, wo man zwar die
Aufklärung proklamierte, wo aber - wie in Frankreich - eine Marie Curie noch in dem Jahr, in
dem sie zum zweiten Mal den Nobelpreis erhielt (1911), nicht in die Akademie der
Wissenschaften aufgenommen wurde und wo - wie in Deutschland - Frauen bis 1918 von der
Habilitation und damit von der Laufbahn als Hochschul- lehrerin ausgeschlossen waren.
Anmerkungen
- Andreas Kleinert, Der lange Weg der Frau in die Wissenschaft.
In: Bild der Wissenschaft, 1977, Heft 11, S. 178-190.
- Von dieser Biographie gibt es einen ausführlich kommentierten
und um viele zusätzliche Informationen über Maria Agnesi
ergänzten Neudruck: Antonio Francesco Frisi, Elogio storico di
Donna Maria Gaetana Agnesi. Ristampa della edizione milanese del
1799 curata e commentata da Arnaldo e Giuseppina Masotti.
Mailand 1965.
- Luisa Anzoletti, Maria Gaetana Agnesi. Mailand 1900.
- Ib., S. 43.
- Das Gedicht hat den Titel Alla nobile fanciulla D. Maria Gaetana
Agnesi Milanese, che nell'età di anni cinque parla mirabilmente
Francese. Es ist abgedruckt in Frisi (Anm. 2), S. 20.
- Die Rede wurde 1727 unter dem Titel Oratio qua ostenditur:
Artium liberalium studia a femineo sexu neutiquam abhorrere in
Mailand gedruckt. 1729 später wurde sie in einen von Antonio
Vallisneri herausgegebenen Sammelband mit Veröffentlichungen
über das Frauenstudium aufgenommen. Dazu und zur Erwähnung
dieser Rede in der pädagogischen Literatur Italiens vgl. Arnaldo
Masotti, Maria Gaetana Agnesi. In: Rendiconti del seminario
matematico e fisico di Milano. 14(1940), S. 89-127. Hier S. 93-94.
- Zum Inhalt vgl. Masotti (Anm. 6), S. 95-96.
- Charles de Brosses, Lettres familières sur l'Italie. Publiées
par Yvonne Bezard. Paris 1931 (Brief an Jean Bouhier vom 17.
Juli 1739). Ich zitiere in Anlehnung an Des Präsidenten de
Brosses vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in
Dijon 1739-1740. Übersetzt von Werner Schwartzkopf. Bd.1,
München 1918. S. 92-94.
- Gazetta di Milano, 2. Dezember 1739. Vgl. Anzoletti (Anm. 3) S.
189-192.
- S. 605-609.
- Traités élémentaires de calcul différentiel et de calcul
intégral. Paris 1775.
- Analytical institutions in four books. London 1801.
- Diese Behauptung geht auf den Mailänder Dichter Carlo Antonio
Tanzi zurück. Von ihm hat sie Giammaria Mazzuchelli in sein
biographisches Sammelwerk Gli scrittori d'Italia (Brescia 1753)
übernommen. Vgl. Anzoletti (Anm. 3), S. 99-100.
- Ibid., S. 100-101.
- Ibid., S. 173.
- Vgl. dazu Truesdell (Anm. 20), S. 124.
- "avendo io avuto in mira più, che ogni altra cosa, la necessaria
possibile chiarezza." Die Einleitung der Instituzioni analitiche
ist abgedruckt bei Masotti (Anm. 6), S. 101-103.
- Ibid., S. 106.
- Anzoletti (Anm. 3), S. 313.
- Clifford Truesdell, Maria Gaetana Agnesi. In: Archive for
History of Exact Sciences. 40(1989), S. 113-142.
- Ibid., S. 120-121.
- Der Text der Besprechung ist abgedruckt bei Masotti (Anm. 6), S.
107.
- Die Angaben zur Biographie stammen aus: Giambattista
Comelli, Laura Bassi e il suo primo trionfo. In: Studi e memorie
per la storia dell'Università di Bologna. Vol. III. Bologna
1912. S. 197-256. Erst nach Fertigstellung dieses Artikels erschien die
grundlegende Biographie von Beate Ceranski: "Und sie fürchtet sich vor niemandem".
Die Physikerin Laura Bassi (1711-1778) Frankfurt/Main 1996.
- Ibid., S. 203.
- Die Gedichte wurden veröffentlicht in: Rime per la conclusione
filosofica nello studio pubblico di Bologna tenuta
dall'illustrissima ed eccellentissima signora Laura Maria
Catterina Bassi. Bologna 1732 und Rime per la famosa laureazione
ed acclamatissima aggregazione al collegio filosofico della
illustrissima ed eccelentissima signora Laura Maria Catterina
Bassi. Bologna 1732.
- Comelli (Anm. 23), S. 216.
- Brief von Francesco Maria Zanotti an seinen Bruder Giovanni
Pietro vom 14. Juni 1732. Biblioteca Comunale di Bologna.
Zitiert nach Comelli (Anm. 23), S. 218.
- Amadei: Diario di Bologna dal 1732 al 1745. Manuskript,
Biblioteca comunale di Bologna. Zitiert nach Comelli (Anm. 23),
S. 220.
- Giovanni Fantuzzi, Elogio della dottoressa Laura Maria Caterina
Bassi Verati. Bologna 1778. S. 13. (Auch in: Giovanni Fantuzzi,
Notizie degli scrittori bolognesi. Band 1, Bologna 1781, S. 384-391.)
- Laura Bassi an Flaminio Scarselli, 14. Juni 1755.
Universitätsbibliothek Bologna. Zitiert nach Comelli (Anm. 32),
S. 221.
- De aeris compressione. In: De Bononiensi scientiarum et artium
instituto atque academia commentarii. 2(1745), S. 347-353. In
Band 4 (1757) der "Commentarii" erschienen Laura Bassis
Abhandlungen De problemate quodam hydrometrico (S. 61-73) und De
problemate quodam mechanico (S. 74-79).
- Die Briefe an Laura Bassi sind veröffentlicht in Lettere inedite
alla celebre Laura Bassi scritte da illustri italiani e
stranieri. Bologna 1883.
Andreas Kleinert
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